Seite: Gerd Sonntag, "Stille und Lärm" - aus Notizen, 1995 - 2008, Fluch der Wortekunst?

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Zeit der Gleichnisse und Fabeln


Geh! gehorche meinen Winken,
Nutze deine jungen Tage,
Lerne zeitig klüger sein:
Auf des Glückes großer Wage
Steht die Zunge selten ein;
Du mußt steigen oder sinken,
Du mußt herrschen und gewinnen,
Oder dienen und verlieren,
Leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein.

Goethe

 

Amboss oder Hammer sein.

Arbeit
Für wessen Zerlebtwerden
wäre es des Hervorhebens wert,
als welches Werkzeug
ein Ich
sich unter den Schlägen
eines Formgebers
verformt?

Schlagen oder geschlagen werden?
Schöpferischer Macher sein - oder duldend stillhaltendes Werkzeug?
Animismus der Gegenstände.
Was passiert mit Amboss, was mit Hammer?
Was ertragen ganz und gar  u n f r e i w i l l i g  beide?

Des Hammers Aufschlag
schmerzt den Amboss.
Des Amboss´ massig sturer Schädel
schmerzt den Hammer.
Zwischen beiden Massen schreit
das Werkstück.
Beider Stahl teilt sich den Lärm
menschlicher Quälerei.

Formgebung und Zwang.
Ein Amboss, als er noch zur Arbeit gehörte, überlebte meist Generationen zerrütteter Hämmer und auch die von Arbeit zerrütteten, auf das Eisen einschlagenden Männer. Von sich abnutztenden Machern abgenutzte Kraft. Der Hammer triumphierte hierbei nie.
Der Hammer in der Schmiede wird zerschlagen, wird zerrüttet von der eigenen Wucht, die an der Widerkraft des Amboss´ schwingt, der (aufrecht stehend ! ) seine Energie gegen das Werkstück und gegen den Hammer hält.

Willenloses Werkzeug gegen willenloses Werkstück.
Mit dem Hammer schlägt der Schmied - der Hammer selbst will keine Form.
"Du mußt steigen oder sinken".
Der Hammer steigt und sinkt - im Rhythmus der Sekunden - wenn`s verlangt wird.
Der Amboss steigt nicht, sinkt nicht. Er steht aufrecht vor dem Schmied.
Wessen Werkzeug ist der Schmied?
"Leiden oder triumphieren,
Amboß oder Hammer sein" - ist das wirklich eine Wahl, die es zu treffen lohnt?

 

"steigen oder sinken".
Könnte ich mir dessen gewiss sein, dass ein stetiges Aufsteigen etwas wesentlich anderes bedeuten würde als ein stetiges In-Etwas-Hinein-Stürzen, und das Sinken etwas Geringeres wäre denn ein aus Glanzlust erfundener Wert - ich würde sofort zu den Mutmachern überlaufen.
Goethe, der den Federstrich als etwas kennenlernte, was nicht nur Worte hervorbringt, konnte die Frage nicht verborgen bleiben, ob hier wohl noch etwas anderes am Wirken wäre. Sonst hätte er den Faust nicht sagen lassen:
"So sinke denn, man kann auch sagen, steige." Antworten gibt es darauf vielleicht keine, aber Fragen. Er hatte die erste Dichtung nicht gestrichen. Warum? Nur um ein Zeugnis zu hinterlassen?  Oder gab es hier das selbe Motiv, aus dem heraus Leonardo seine Tauch-Boot-Aufzeichnungen nicht vernichtete?